Newsletter Oktober 2023

Liebe Gönnerinnen, liebe Gönner

Die Zeit rinnt durch meine Finger. Das war schon immer so, aber seit ein paar Jahren hat sich dieser Eindruck verstärkt. Früher war alles immer machbar, aber in letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass ich zu nichts komme, vermehrt. Das hat sicher mit meinen gelebten Jahren zu tun, einundfünfzig Jahre bin ich mit Aziz inzwischen verheiratet, drei Kinder haben wir grossgezogen, drei Grosskinder bekommen und währenddessen die Realisierung unseres Projektes: Das Zentrum der Hoffnung. Ja, da kam Einiges zusammen. Von dem ich nichts missen möchte.

Ja, ich bin in Bassam. Hier bin ich gern und ich liebe die Routine: Ein Tag folgt dem anderen. Sie gleichen sich oft und sind doch nie dieselben. Ich stehe um fünf Uhr dreissig auf und bin um sechs Uhr im Krankenhaus bei unseren Patientinnen und Patienten, deren Tage auch so früh beginnen. Gestern war es so, dass es einer Patientin glücklicherweise etwas besser ging, so dass wir sie zu einer neurologischen Abklärung in die Stadt bringen konnten. Dafür hatte ein anderer Patient eine derart schlechte Nacht, dass es unmöglich war, den Termin bei seinem Augenarzt wahrzunehmen.

Unser Fahrer bringt aber nicht nur die Patienten zu ihren jeweiligen Terminen, sondern auch unsere grösseren Kinder zur Schule in die Stadt und muss deshalb sehr früh los, schon kurz nach sechs Uhr. Die kleineren Kinder müssen spätestens um sieben Uhr aus dem Haus sein, damit sie rechtzeitig in die Schule kommen. Sie müssen pünktlich sein, denn wenn sie auch nur eine Minute zu spät kommen, bleibt die Türe verschlossen. Wenn alle weg sind, gehe ich durch unser Dörfli zu unseren Seniorinnen und Senioren spazieren. Was für eine Ruhe! Die meisten unserer Seniorinnen und Senioren schlafen noch, aber einige sind wie ich bereits am Spazieren, machen ihr Morgentraining oder sitzen einfach vor ihrem Hüttli. Ich muss lächeln, wenn ich sehe, dass die Tür des Hühnerstalls bereits offensteht. Hier ist die Welt in Ordnung, es ist eine kleine Oase des Friedens, es riecht nach Kaffee aus der Küche, der Nachtwächter grüsst mich, schliesst dann seine Taschenlampen weg und geht – wohlverdient – schlafen. Um circa sieben Uhr fünfundvierzig geniesse ich mein Frühstück und mache mich dann auf in mein Büro.

Was mich nach meinem «Suivant!» – also: «Der oder die Nächste bitte» – erwartet, weiss ich nie. Es sind Mütter, die verlassen wurden. Väter, die arbeitslos sind und untröstlich weinen, da sie ihre Familie nicht mehr ernähren können, was in Afrika eine Schande ist. Frauen mit Krebs, die um Hilfe bitten, Menschen mit Diabetes oder Bluthochdruck. Kinder mit einem Hämoglobinspiegel von fünf (!) Gramm, wo doch der Normalwert mindestens elf betragen sollte, und die, sollten sie einen Malariaanfall bekommen, diesen deshalb kaum überleben würden. Alte Menschen, die ein Herzleiden haben, oder Alzheimer. Jugendliche ohne Zukunftsperspektiven, die in Alkohol und Drogen ihren Trost suchen. Gegen zweihundert Menschen, denen es schlecht geht, sehe ich pro Tag. Sie gestehen mir voller Scham, wie sie zu Bettlern wurden, da das Leben so teuer geworden ist. Es ist unglaublich, das Land wird immer moderner, das Volk immer ärmer. Der Stolz der Politiker ist es, modernste Infrastrukturen zu bauen, währenddem das Volk langsam stirbt. Es vergeht nicht ein Tag, an dem mir nicht die Tränen kommen in meinem Büro, wegen all der Ungerechtigkeit und all dem Leid. Und wenn ich dann auch noch eine Mutter sehe, der ich keine Hoffnung machen kann, dass ihr krankes Kind, das in ihren Armen liegt, überleben wird, fühle ich mich meiner ganzen Kraft entzogen. Und doch geht es weiter. Es muss. «Suivant!»

DIE GESCHICHTE VON JEREMY

Jeremy kam zu uns, als er etwas mehr als ein Jahr alt war. Dies war vor sechzehn Jahren. Gebracht wurde er von einem siebzehnjährigen Mann, wie sich herausstellen sollte war er sein Vater. Er kam seinen Sohn anfangs regelmässig besuchen. Als er dann aber realisierte, dass Jeremy sich nicht so entwickelte wie andere Kinder, kam er nicht mehr. Wo er ist? Wir wissen es nicht, wir haben keine Spur mehr von ihm. Dazu muss man wissen, dass viele der afrikanischen Kinder, bei denen sich eine kognitive Beeinträchtigung zeigt, als «Böse Geister» oder «Hexen» verschrien und umgebracht werden. Jeremy hatte also grosses Glück, dass sein Vater ihn uns anvertraute. Wir fanden eine Spezialschule für ihn, die von einer Französin gegründet worden und wo Jeremy willkommen war. Nach zehn Jahren hatte er alles gelernt, was sie ihm beibringen konnten, was bedeutete, dass wir eine neue Lösung für ihn finden mussten. Wir hörten von einem öffentlichen Heim für «solche» Kinder, das etwa neunzig Autominuten von uns entfernt ist. Also wollten wir uns dort einmal erkundigen. Wir brauchten geschlagene sechs Stunden dorthin. Die diversen Baustellen in der Stadt, für Hochhäuser und eine neue Metro, führen immer wieder zu riesigen Staus – wir mussten unzählige Umwege machen. Als wir das Heim endlich erreicht hatten, empfingen uns Schreien, Weinen, Brüllen. Ich kann kaum beschreiben, was ich da sah, es war furchtbar, unmenschlich, die Szenerie glich einem Gefängnis oder einer psychiatrischen Klinik aus sehr alten Tagen. Hundertfünf Kinder werden dort von kaum vierzig Angestellten betreut – allesamt ungeschult. Ein Albtraum. Mein Fahrer und mein Sozialarbeiter, die mich begleitet hatten, waren ebenso schockiert von den Umständen wie ich, und so stiegen wir nach einem kurzen Gespräch mit der Heimleiterin wieder ins Auto und fuhren zurück in unser Zentrum der Hoffnung. Um ein Uhr in der Früh waren wir wieder zurück. Unser Jeremy an diesem schrecklichen Ort? Er, der Aufmerksamkeit und Liebe erhält von all seinen «Geschwistern», die mit ihm bei uns wohnen, von unseren Kinderfrauen und den Mitarbeitenden im Centre? Ihn, der glücklich und verwurzelt ist bei uns, in so ein Heim bringen? NIEMALS! Jeremy versteht alles, was wir sagen, hat seine eigene Sprache, die wir hier alle verstehen. Nein, Jeremy darf nicht aus diesem Leben hier gerissen werden, er würde vor Kummer sterben. Also sprach ich mit unserem Gärtner, einem gütigen, ruhigen Mann, und erklärte ihm mein Problem. Er kennt Jeremy auch sehr gut und weiss, dass dieser gerne arbeitet. Also erhielt Jeremy dieselbe Werkuniform wie er und hilft seither im Garten mit. Die beiden sind schon ein gut eingespieltes Team und Jeremy ist glücklich, denn wir sind seine Familie, hier ist er zu Hause.

Jeremy et Ousmane jardiniers 2023 09 2 002

Jeremy ist glücklich, im Garten mithelfen zu können

 DIE GESCHICHTE VON SALLY

Sally wurde uns vor knapp fünf Jahren gebracht – eine hochschwangere junge Frau, die offenbar an epileptischen Anfällen und an einer geistigen Beeinträchtigung litt. Sie hatte sich in einen jungen Mann verliebt, doch als dieser von ihrer Schwangerschaft erfuhr, riss er aus. Schwanger ohne verheiratet zu sein galt in ihrer Familie als grosse Sünde, und so wurde sie aus ihrem Zuhause rausgeworfen. Sie kam also nach Abidjan und schlief unter einem Tisch auf dem Nachtmarkt. Sie erzählte mir, dass die Männer ihr hundert Francs CFA gaben – das entspricht etwa 15 Rappen – jedes Mal, wenn sie sich ihnen hingab. Sie musste sich ja irgendwie ernähren. Da sie aber oft ihre epileptischen Anfälle hatte, wurde sie auch von dort fortgejagt. Und so haben wir sie aufgenommen. Wir brachten sie zu einem Neurologen, sie bekam Medikamente, Liebe, Aufmerksamkeit und ihr Sohn Oumar wurde zwei Monate, nachdem sie bei uns eingezogen war, durch einen Kaiserschnitt entbunden – eine Spontangeburt ist bei Epilepsie ein zu grosses Risiko, sowohl für die Mutter wie auch für das Kind. Heute lebt sie in unserem Dorf Ayobâ. Nicht weil sie, wie die anderen Bewohnerinnen und Bewohner, alt und krank wäre, nein, aber weil sie sonst nirgendwo leben kann. Sie ist glücklich, hilft in der Küche, macht die Wäsche. Dabei singt sie mehr oder weniger ständig und hat immer ein kleines Radio bei sich. Und der kleine Oumar geht in dieselbe Schule wie unsere anderen Kinder aus dem Centre. Er ist ein kluges Bürschlein und wird sicher einmal ein «Grand Monsieur», wie man hier sagt. All die Menschen, die an einer Krankheit leiden und kein Obdach mehr haben sind bei uns willkommen, es sind Menschen, um welche sich niemand sorgen mag. Ich las einmal in einem Buch, was den Sinn unseres Lebens ausmacht, und da stand sinngemäss geschrieben: «Jemanden haben, um den man zittert.»

Sally und Oumar 2023 09

Sally und Oumar, der jetzt auch zur Schule darf

Liebe Gönnerinnen, liebe Gönner, dank Ihnen durften wir auch diesen Herbst wieder achthundertfünfzig Kinder einschulen. Achthundertfünfzig Kinder, die eine bessere Zukunft haben, die hoffentlich Arbeit finden und die eines Tages finanziell unabhängig sein werden. Freiere, glücklichere und gesundere Menschen – ich danke Ihnen aus ganzem Herzen. Gott segne Sie für Ihre Grosszügigkeit.

Ich hoffe, es geht Ihnen allen gut!

Mit den besten Wünschen
Lotti Latrous

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Unsere Kinder sind bereit für den Schulstart