Liebe Gönnerinnen, liebe Gönner,
zuerst wünsche ich Ihnen, wie immer etwas verspätet, ein glückliches neues Jahr. Viel gute Gesundheit, Erfolg und ganz viel Liebe.
Für mich wird 2025 einiges an Veränderungen mit sich bringen, und deshalb wird dieser Trimesterbrief etwas länger als üblich. Und da es mir ein immens grosses Anliegen ist, Ihnen davon zu erzählen, bevor Sie es in den Zeitungen lesen, kommt er für einmal per A-Post.
Lassen Sie mich von vorne beginnen:
Genau vor 26 Jahren wurde unser Centre L’Espoir in Adjouffou eröffnet. Wie gut kann ich mich an diesen Tag erinnern, so ein grosses Glück empfanden wir, unsere vier vor der Verschrottung geretteten Schiffscontainer einzuweihen, die wir zu zwei Krankenzimmern, einer Apotheke und einem Büroraum umfunktionieren wollten. Wir wussten nicht, was uns erwartete, nahmen einfach Tag für Tag, wie es kam. Damals waren wir noch keine Stiftung, wir hatten vier Mitarbeitende, die für einen kleinen Lohn mit anpackten. Mein Mann Aziz schickte mir jeden Monat 500 Franken, mit denen ich Medikamente für unsere «Hausapotheke» kaufen konnte. Eine Konsultation bei uns kostete 0,80 Euro. Zahlen mussten nur diejenigen, die sich das leisten konnten. Beides haben wir beibehalten, denn die armen Menschen sind heute noch ärmer als vor 26 Jahren.
Die Anfangszeit war sehr hart. Aids grassierte in schrecklichen Ausmassen. Viele der Menschen schafften es nicht mehr zu uns ins Centre L’Espoir, also fuhr ich in die Slums, um die am Boden liegenden, sterbenden Menschen aufzulesen und zu uns zu bringen. Mir war es wichtig, dass sie in einem sauberen Bett, auch wenn es nur in einem Container-Krankenzimmer stand, das bekamen, was jeder Mensch verdient: eine würde- und liebevolle letzte Betreuung. Viele von ihnen waren im Stich gelassen worden. Aus Angst vor Ansteckung hatten Verwandte und Nachbarn die Flucht ergriffen. Ich arbeitete damals bis zu achtzehn Stunden pro Tag, von etwas getrieben, das mir vorkam wie eine Sucht, wie ein Müssen. Aufhören? Unmöglich! Pausen einlegen? Undenkbar! Wie auch? Es gab ja so unendlich viele Menschen, die hier starben. Sie im Stich zu lassen, das hätte weder meine Erziehung noch mein Gewissen und erst recht nicht mein Herz zugelassen.
Und so geht es seit 26 Jahren. Die schlimmste Aids-Zeit haben wir zum Glück überwunden, aber Krankheiten, Hunger und Not gibt es nach wie vor viel zu viel. Mit der Zeit wurden wir auch in der Schweiz bekannt, es gab eine Fernsehsendung, dann Bücher, einen Dokumentarfilm im Kino, das Schweizer Volk wurde auf uns aufmerksam. Was diese etwas verrückte Schweizerin, damals 46 Jahre alt, Ehefrau eines Nestlé-Direktors und Mutter von drei Kindern, tat, stiess auf Interesse. Dass ich mein komfortables Traumleben im Luxus aufgab, um in einem der grössten Slums in Adjouffou mit den Ärmsten der Armen zu leben, in einem Quartier, in das sich sonst kein Weisser traute – und das noch als Frau! –, schien viele Menschen zu berühren.
Dieses Leben war das, was ich wollte, es war das, was ich gesucht hatte, ohne es benennen zu können, und es war das, was mich reich machte. Nicht materiell, bewahre, nein! Es bereicherte meine Seele, wie ich das zuvor noch nie erlebt hatte. Mein Mann zeigte Verständnis und liess mich meiner Berufung folgen. Er erkannte, dass es anders einfach nicht mehr ging. Sarah, unsere Jüngste, war damals erst neun Jahre alt. Es war schwer für sie, aber sie verstand und sah auch, wie ich lebte, sah all die sterbenden Kinder, denn sie kam in den Schulferien zu mir nach Adjouffou. Unsere beiden älteren Kinder, Sonia und Selim, besuchten damals bereits eine Schweizer Hotelfachschule.
Bald bauten wir dann ein Hospiz, das war unser zweites Zentrum, und kurz darauf ein Waisenhaus, das dritte Zentrum. Zwischen dem ersten und den beiden anderen lagen nur dreihundert Meter. Dreihundert Meter Schlamm und Dreck, was ich um drei Uhr in der Nacht, wenn ich an das Bett eines sterbenden Menschen gerufen wurde, allerdings kaum sehen konnte. Immer wieder hatten wir mehrere Wochen lang weder Strom noch Wasser. Wir arbeiteten damals noch mit Petrollampen und holten das Wasser aus einem Brunnen.
Mit den Berichterstattungen, und sicher auch mit meinem Titel als Schweizerin des Jahres 2004, wendete sich dann vieles zum Guten. Wir bekamen Spenden und konnten die Stiftung Lotti Latrous gründen. Dadurch wurde es uns möglich, noch mehr zu helfen und weitere Arbeitsplätze zu schaffen. Wir stellten mutiges Personal ein, das zum Teil noch heute bei uns ist, mit Ausnahme natürlich derjenigen, die inzwischen in den wohlverdienten Ruhestand gehen durften, und einige sind leider bereits verstorben. Ausserdem konnten wir unsere Infrastruktur ausbauen.
Dann, nach achtzehn Jahren Slum, mussten wir aus Adjouffou weggehen. Mussten noch einmal von vorne beginnen, alles neu aufbauen, denn unsere drei Zentren hatten der Ausweitung des Flughafens von Abidjan zu weichen. Und so landeten wir in Bassam. Ich wollte wieder in einen Slum, und tatsächlich fanden wir durch mehrere glückliche Fügungen einen Platz am Rand eines Slums.
Seit vielen Jahren nun beschäftigen wir rund achtzig Mitarbeitende und betreiben ein Ambulatorium und ein sehr aktives Sozialamt, das Hunderten von Müttern und Kindern hilft. Jährlich schulen wir rund achthundert Kinder ein, die, gäbe es uns nicht, als Analphabeten keine Zukunft hätten. Wir haben ein Hospiz, das heute nicht mehr nur sterbenden Aidspatienten dient, sondern auch Patienten mit Krebs und anderen Krankheiten, die palliative Pflege brauchen. Es gibt ein Waisenhaus, in welchem 35 Kinder leben, momentan ist das Jüngste fünf Jahre alt, das Älteste zweiundzwanzig. Und wir konnten Ayoba bauen, ein Dorf, in dem alte, kranke, behinderte und ausgestossene Menschen in Würde in einer Gemeinschaft leben können. Ich nenne es «mein» Dorf, denn es war schon so lange ein Traum von mir, eine solche Einrichtung aufzubauen. Und «la Providence», die Vorhersehung, die uns in all den Jahren wohlgesinnt war, stand auch dieses Mal an meiner Seite, sodass heute auf dem 2500 Quadratmeter grossen Gelände vierzehn afrikanische Hütten stehen, inmitten von Blumen und Palmen und anderen Pflanzen, mit Hühnern und zwei Büsis und einfach allem, was ein kleines afrikanisches Dorf so braucht. Und mittendrin steht eine afrikanische Küche, in der zwei Frauen singend kochen und unsere Bewohnerinnen und Bewohner verwöhnen. Und es gibt sogar eine Bocciabahn. Einfach wunderschön!
Unseren Zentren geht es dank Ihrer treuen Hilfe gut. Und dafür danke ich Ihnen aus ganzem Herzen.
So, und jetzt komme ich zum Punkt, aber vielleicht ahnen Sie es schon: Man sagt ja, dass man aufhören soll, wenn es am schönsten ist.
Nun, ich werde im Mai 72 Jahre alt, und seit meiner Tuberkuloseerkrankung im Jahr 2007 und den darauffolgenden ständigen Lungeninfektionen und Lungenentzündungen hat sich bei mir eine chronisch-obstruktive Bronchitis entwickelt, man sagt dazu auch Raucherhusten. Ironie des Schicksals: Ich habe nie in meinem Leben geraucht. Die Krankheit raubt mir viel Kraft und Energie und zwingt mich dazu, vermehrt zu mir zu schauen. Das einzusehen, war nicht einfach, das kann ich Ihnen sagen. Aber alles hat ja immer zwei Seiten: Es hat mir auch die Erkenntnis gebracht, dass ich nicht unersetzbar bin. Und das wiederum hat dazu geführt, dass wir zwei Frauen gesucht und gefunden haben, die exakt das verkörpern, was ich mir für unsere Centres so sehr gewünscht hatte. Das tönt jetzt vielleicht so, als ob wir sie nur aus dem Ärmel hätten schütteln können. Die beiden zu finden, war keineswegs so einfach. Aber die Vorhersehung hat wieder einmal sehr geholfen.
Also: An einem strahlenden Morgen im Oktober 2023 kam eine junge Frau in mein Büro. «Ich heisse Llum», sagte sie, «und ich bin Kinesiologin. Ich habe eine kleine Praxis in Abidjan, und jeden Tag, wenn ich um sechs Uhr an Ihrem Haus vorbeifahre, sehe ich Schlangen von wartenden Menschen. Arme, kranke, abgemagerte, verwundete Menschen. Nun komme ich, um meine Neugierde zu stillen. Sagen Sie, was ist das für ein Haus?» Ich fragte sie, ob sie zwei Stunden Zeit hätte, um mit mir einen Rundgang zu machen. Hatte sie. Und so zeigte ich ihr alles. Sie selbst erzählte, dass sie Spanierin und 48 Jahre alt sei und dass sie mit ihrem Mann, einem Architekten, und dem gemeinsamen Sohn in Burkina Faso gelebt habe, wo sie für eine NGO tätig gewesen sei. Acht Jahre sei es gut gegangen, aber wegen zunehmender terroristischer Anschläge hätten sie ihr Zuhause vor zwei Jahren verlassen müssen und seien nach Bassam gezogen.
Nach dem Rundgang war für sie klar, dass sie für uns arbeiten wollte, und so fing sie als Freiwillige bei uns an, zuerst im Dorf Ayoba, bald schon bei den Kindern und in den Krankenzimmern. Sie schien sehr glücklich zu sein. Die Menschen fühlten sich gut mit ihr. Eines Tages fragte ich sie, ob sie sich vorstellen könnte, fest angestellt bei uns zu arbeiten und meine Freundin Marie Odile abzulösen, die schon seit zwanzig Jahren meine Assistentin ist und mit ihren 73 Jahren auch in den Ruhestand möchte. Sie erschrak und sagte: «Das ist eine zu grosse Verantwortung, ich weiss nicht, ob ich das kann.»
Ich gab ihr Zeit. Sie lernte Aziz kennen und wir ihren Mann und den kleinen Peret, ihren siebenjährigen Sohn. Und dann sagte sie diesen Satz, der mir bestätigte, dass sie zu uns passt: «Ich bin am glücklichsten, wenn ich schwache Menschen glücklich machen kann.» Inzwischen arbeitet Llum Fouz bereits seit einem Jahr bei uns, und wir sind sehr froh.
Nun fehlte aber noch jemand, der mich ersetzen konnte. Wir suchten intensiv und sehr professionell und fanden diese Person in Barbara Jurisic, 50 Jahre alt, Belgierin. Sie ist ausgebildete Psychologin und schon sehr lange in Afrika und Asien für verschiedene Organisationen wie Médecins Sans Frontières, Médecins du Monde und das IKRK tätig. Sie hat bereits Mitte Oktober 2024 bei uns angefangen, und sie stellte sich glücklicherweise als die goldrichtige Wahl heraus. Denn sie bringt nicht nur grosses Sachwissen und viel Erfahrung mit, sondern auch die Empathie, die ich mir für meine Nachfolgerin immer gewünscht habe. Ja, sie hat das Herz auf dem rechten Fleck. Was für ein Glück! So werden Marie Odile und ich Ende Mai Barbara und Llum den Schlüssel übergeben.
Barbara Jurisic, Lotti Latrous, Marie Odile Gabet und Llum Fouz im schönen Garten der Centres L’Espoir (von links nch rechts)
Natürlich werde ich immer wieder zurückkommen und dann eine Weile in Ayoba leben. Ebenso wie Aziz – oder Papa Aziz, wie er hier genannt wird. Er ist inzwischen 78 Jahre alt, aber immer noch fit, und nach wie vor wird er für technische Fragen zur Verfügung stehen. Während ich auf dem Bänklein vor meinem Häuschen sitzen und mit den anderen lachen, beten, essen, atmen, LEBEN werde. Einfach nur leben, im Wissen, dass ich die Verantwortung abgeben durfte an jüngere, tolle Frauen und an unser ganzes lokales Team. Ich werde einfach nur da sein, wie eine Grossmutter, und Zeit haben. Viel Zeit. Und exakt von diesen Momenten träume ich je länger, je mehr, und dieses Träumen lässt meine Albträume verblassen, die ich in den letzten Jahren immer wieder hatte, weil ich nicht wusste, was werden wird, wenn ich eines Tages keine Kraft mehr habe.
Ich lebe nun schon seit 30 Jahren an der Elfenbeinküste, 26 Jahre davon in unserem Projekt. Es ist mein Leben. Ich darf ab Mai da sein, helfen und beraten, wenn es gewünscht wird. Darf einfach sein.
Mein Projekt, mein viertes Kind, wie ich es immer nenne, in neue Hände zu legen, wird mir, ich gebe es gern zu, nicht leichtfallen, aber wenn ich es losgelassen habe, und das darf ich jetzt, denn es ist erwachsen geworden, dann werde ich erleichtert sein. Und glücklich. Und dankbar.
Die Trimesterbriefe werden wir beibehalten, Barbara wird sie übernehmen, aber – das verspreche ich Ihnen – ab und zu werde auch ich Ihnen wieder schreiben; das nächste Mal im Juni.
Jetzt möchte ich Ihnen noch sagen, wie unendlich wichtig Ihre Hilfe all die letzten Jahre war und noch immer ist. Ihre Liebe, Ihre Gebete, Ihre guten Gedanken haben uns durch viele Täler getragen. Dafür bin ich grenzenlos dankbar. Und wenn ich jetzt noch eine Hoffnung formulieren dürfte, dann diese: Vergessen Sie, bitte, unser Projekt nicht und unterstützen Sie uns weiter.
Gott segne Sie!
Und ja, es geht mir gut, jetzt, wo ich Sie informiert habe, erst recht.
Mit grösstem Respekt und der grossen Hoffnung auf Ihr Verständnis,
Lotti